11. April 2023
Individualarbeitsrecht, Arbeitsvertragsrecht, Vergütung
Autor Maximilian Schreiner
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Anspruch auf Entgeltzuschläge durch betriebliche Übung bestätigt

Ein aktuelles Urteil des LAG Sachsen bestätigt den Anspruch eines Arbeitnehmers auf Entgeltzuschläge, die durch betriebliche Übung entstanden sind. Die Beklagte hatte die Zahlung des Zuschlags für die elfte und zwölfte Stunde der Dienste eingestellt, woraufhin der Kläger auf Nachzahlung klagte.

Sachverhalt

Der Kläger, ein Rettungssanitäter, erhielt seit 2010 von seinem Arbeitgeber einen Zuschlag in Höhe von 65 % des Überstundensatzes für die elfte und zwölfte Stunde seiner Dienste. Der Zuschlag wurde in den Lohn- und Gehaltsabrechnungen als „Bereitschaft AVR“ ausgewiesen. Zum 1. Januar 2015 ging das Arbeitsverhältnis des Klägers durch einen Betriebsübergang auf die Beklagte über, die den Zuschlag weiterhin zahlte, aber nun unter der Bezeichnung „Bereitschaftszuschlag 65%“ in den Entgeltabrechnungen führte.

Ab Februar 2021 stellte die Beklagte die Zahlung des Zuschlags für die elfte und zwölfte Stunde der vom Kläger verrichteten Dienste ein. Sie erklärte, im Rahmen einer Software-Umstellung sei aufgefallen, dass die bisherige Zahlungspraxis nicht mit den Regelungen des Tarifvertrags übereinstimme. Die Beklagte argumentierte, der Kläger habe keinen Bereitschaftsdienst geleistet, sondern Arbeitsbereitschaft, für die kein Bereitschaftszuschlag vorgesehen sei. Die bisherigen Zahlungen hätten auf der falschen Annahme beruht, dass sie aufgrund der AVR dazu verpflichtet gewesen sei.

Gründe

Das Arbeitsgericht wies die Klage auf Nachzahlung der Zuschläge zunächst ab. In der Berufungsinstanz vor dem LAG hatte der Kläger jedoch Erfolg. Das Gericht stellte fest, dass der Anspruch auf Zahlung der Zuschläge aufgrund betrieblicher Übung entstanden ist. Unter betrieblicher Übung versteht man die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers, aus denen der Arbeitnehmer schließen kann, ihm solle eine Leistung oder Vergünstigung auf Dauer gewährt werden.

Entscheidend ist dabei nicht, ob der Arbeitgeber einen Verpflichtungswillen hatte, sondern wie der Arbeitnehmer die Erklärung oder das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände verstehen konnte und durfte. Da es auf den Empfängerhorizont ankommt, kann eine betriebliche Übung dann nicht entstehen, wenn der Arbeitgeber irrtümlich meinte, aufgrund einer Norm oder einer vertraglichen Abrede zur Zahlung verpflichtet zu sein und der Arbeitnehmer die Grundlagen des Irrtums erkannte.

Das LAG urteilte, dass durch das vom Kläger dargelegte Verhalten der Beklagten nach dem 1. Januar 2015 ein Anspruch auf Zahlung der geltend gemachten Zulagen für die elfte und zwölfte Stunde der 12-Stunden-Dienste im Wege der betrieblichen Übung entstanden ist. Der Kläger durfte angesichts der veränderten Durchführung der Entgeltabrechnung und der andersartigen Mitteilung des Zahlungsgrundes sowie der ununterbrochenen Gewährung des Zuschlags seit dem Übergang des Arbeitsverhältnisses auf die Beklagte am 1. Januar 2015 nach Treu und Glauben davon ausgehen, dass die Beklagte den „Bereitschaftszuschlag 65 %“ als freiwillige Leistung gewähren wollte.

In den Lohnabrechnungen der Beklagten wurde im Gegensatz zu denen der Rechtsvorgängerin des Klägers nicht mehr auf die bei Beginn des Arbeitsverhältnisses vereinbarten AVR Bezug genommen. Der Bezug zu früheren vertraglichen Regelungen oder zu kollektiven Regelungen, die im Falle eines Betriebsübergangs weitergelten oder in arbeitsvertragliche Verpflichtungen transformiert werden, war in den von der Beklagten erteilten Entgeltabrechnungen nicht mehr erkennbar.

Der Zweck der Entgeltabrechnung besteht darin, Transparenz herzustellen, sodass der Arbeitnehmer erkennen kann, warum er den ausgezahlten Betrag erhält. Der Kläger durfte deshalb darauf vertrauen, dass die Entgeltabrechnungen richtig und vollständig sind. Aus seiner Perspektive konnte er mangels Bezugnahme auf die arbeitsvertraglich vereinbarten AVR davon ausgehen, dass die Beklagte ab dem 1. Januar 2015 Bereitschaftszuschläge in der geltend gemachten Höhe für die elfte und zwölfte Stunde der Dienste als freiwillige Leistung zahlen wollte. Damit entstand der Anspruch auf die streitgegenständlichen Leistungen aufgrund betrieblicher Übung.

Das Gericht entschied zudem, dass der Kläger auch Anspruch auf die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten hat, die streitgegenständlichen Zuschläge während des bestehenden Arbeitsverhältnisses auch in Zukunft zu entrichten. Dies bedeutet, dass die Beklagte verpflichtet ist, die Zahlung des Bereitschaftszuschlags in Höhe von 65 % für die elfte und zwölfte Stunde der Dienste des Klägers fortzusetzen, solange das Arbeitsverhältnis besteht.

Praxistipp

Arbeitgeber sollten sich über die möglichen Folgen einer betrieblichen Übung im Klaren sein und ihre Entgeltabrechnungen sowie die Kommunikation gegenüber den Arbeitnehmern entsprechend gestalten, um ungewollte Ansprüche zu vermeiden.

Über den Autor

Herr Schreiner ist Partner der Sozietät und als Rechtsanwalt im Attendorner Büro der Kanzlei tätig.

Während seines Studiums an der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster setzte er bereits eindeutige Schwerpunkte im Bereich Arbeitsrecht und war im Rahmen des Referendariats bei einer internationalen Wirtschaftskanzlei in Düsseldorf arbeitsrechtlich tätig.

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