17. November 2022
Individualarbeitsrecht, Kündigungsrecht, Arbeits- und Gesundheitsschutz
Autor Maximilian Schreiner
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BAG: bEM muss bei erneuter Arbeits­unfähigkeit ggf. nochmals durchgeführt werden

BAG, Urteil vom 18.11.2021, Az.: 2 AZR 138/21

Amtlicher Leitsatz

Der Arbeitgeber hat grundsätzlich ein neuerliches bEM durchzuführen, wenn der Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres nach Abschluss eines bEM erneut länger als sechs Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt war.

Sachverhalt

Gegenstand des Verfahrens war ein Streit über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung.

Der Kläger war bei der Beklagten seit 2001 beschäftigt. Über die Jahre 2017 bis 2019 war er regelmäßig arbeitsunfähig erkrankt: 2017 an 40 Arbeitstagen, 2018 an 61 Arbeitstagen und 2019 an 103 Arbeitstagen.

Die Parteien führten am 05.03.2019 ein Gespräch zur Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (bEM). In dem von allen Parteien unterzeichneten Erhebungsbogen vom selben Tag ist angegeben, dass kein Sachverständiger eingebunden werden soll. Der Kläger war in dem Zeitraum nach dem bEM-Gespräch bis zur Kündigung erneut an 79 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt.

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis zum 31.08.2020, hilfsweise zum nächstmöglichen Termin. Dagegen hat der Kläger rechtzeitig Kündigungsschutzklage eingereicht. Der Kläger war unter anderem der Ansicht, die Kündigung sei sozial nicht gerechtfertigt. Die Beklagte war der Auffassung, die Kündigung sei aus personenbedingten Gründen sozial gerechtfertigt. Sie sei nicht verpflichtet gewesen, vor Ausspruch der Kündigung ein erneutes bEM durchzuführen.

Das Arbeitsgericht Düsseldorf (Urteil vom 07.07.2020 – 5 Ca 1108/20, BeckRS 2020, 41436) hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf (NZA-RR 2020, 41435) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Gegen das Urteil der Berufungsinstanz hat die Beklagte Revision eingelegt. Diese hatte keinen Erfolg.

Die Entscheidung des BAG

Das BAG hat die Revision für unbegründet erachtet. Die Kündigung der Beklagten sei sozial ungerechtfertigt.

Nach Auffassung des BAG sei die Kündigung unverhältnismäßig, da der Beklagte nicht dargetan habe, dass keine zumutbare Möglichkeit bestand, die Kündigung durch mildere Maßnahmen zu vermeiden. Der Arbeitgeber trage für die Verhältnismäßigkeit die Darlegungs- und Beweislast. Im ersten Schritt könne er sich im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses auf die Behauptung beschränken, für den Arbeitnehmer bestehe keine andere – seinem Gesundheitszustand entsprechende Beschäftigungsmöglichkeit. War der Arbeitgeber jedoch zur Durchführung eines bEM verpflichtet und ist er dieser Verpflichtung nicht nachgekommen, sei er darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass auch ein bEM nicht dazu hätte beitragen können, neuerlichen Arbeitsunfähigkeitszeiten entgegenzuwirken und das Arbeitsverhältnis zu erhalten.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung, ob die Kündigung durch mildere Mittel hätte voraussichtlich vermieden werden können, sei der Zugang der Kündigung. Der Beklagten habe die Darlegung oblegen, dass auch mithilfe eines weiteren bEM keine milderen Mittel als die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hätten erkannt oder entwickelt werden können. Diese sei auch verpflichtet gewesen, die Initiative für ein erneutes bEM zu ergreifen, selbst wenn sie bereits am 05.03.2019 ein bEM mit dem Kläger durchgeführt habe. Dieser Verpflichtung sei die Beklagte nicht nachgekommen.

Der Arbeitgeber habe grundsätzlich ein neuerliches bEM durchzuführen, wenn der Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres nach Abschluss eines bEM erneut länger als sechs Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt war, und zwar auch dann, wenn nach dem vorherigen bEM noch nicht wieder ein Jahr vergangen ist.

Dem Sinn und Zweck des § 167 Abs. 2 SGB IX widerspräche es, ein Mindesthaltbarkeitsdatum von einem Jahr in das Gesetz zu lesen. Innerhalb weiterer sechswöchiger Krankheit könnten sich neue Erkrankungen, betriebliche Abläufe und Verhältnisse sowie Heilverfahren ergeben, welche in dem vorherigen bEM noch nicht berücksichtigt wurden. Diese Aspekte müssten in einem neuerlichen bEM behandelt werden, um einen möglichen neuen Präventionsansatz finden zu können.

Dies gelte jedoch nicht, wenn während eines laufenden bEM neue Krankheitstage im Umfang von sechs Wochen hinzutreten.

Praxishinweis

Das Urteil verschafft Klarheit im Hinblick auf die Auslegung des § 167 Abs. 2 SGB IX. Schon vor diesem höchstrichterlichen Urteil haben Gerichte der Vorinstanz die gleiche Rechtsansicht vertreten.

Arbeitgeber werden durch diese Entscheidung abermals vor organisatorische Herausforderungen gestellt. Ein neuerliches bEM ist nicht nur dann durchzuführen, wenn zwischen dem letzten bEM und einer Kündigung sechs weitere Wochen der Arbeitsunfähigkeit liegen, sondern immer, wenn dies nach Abschluss eines bEM geschieht.

Über den Autor

Herr Schreiner ist Partner der Sozietät und als Rechtsanwalt im Attendorner Büro der Kanzlei tätig.

Während seines Studiums an der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster setzte er bereits eindeutige Schwerpunkte im Bereich Arbeitsrecht und war im Rahmen des Referendariats bei einer internationalen Wirtschaftskanzlei in Düsseldorf arbeitsrechtlich tätig.

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