09. Januar 2023
Alternative Mitbestimmung
Autor Dr. jur. Dirk Schreiner
Stets up-to-date.

Sie möchten arbeitsrechtlich stets auf dem neuesten Stand bleiben? Dann abonnieren Sie unseren kostenfreien Newsletter und seien Sie Ihrem Gegenüber stets einen Schritt voraus.

Der Belegschaftsausschuss – die Alternative zum Betriebsrat

Nur in ca. 35 % der deutschen Betriebe gibt es einen Betriebsrat und nur 45 % der deutschen Arbeitnehmer werden von einem Betriebs- oder Personalrat vertreten. Diese Zahlen überraschen im ersten Moment, ist doch vielen Arbeitgebern wie Arbeitnehmern nur die Institution des Betriebsrats als kollektive Vertretung der Belegschaft bekannt. Tatsächlich stellt der Betriebsrat (neben der Mitarbeitervertretung in kirchlichen Betrieben) die einzig gesetzlich geregelte Institution einer kollektiven Vertretung der Belegschaft dar. In vielen Betrieben, in denen kein Betriebsrat gebildet wurde, gibt es dennoch Arbeitnehmervertretungen (Belegschaftsausschüsse, Belegschaftsräte, Vertrauensleute etc.), die jedoch nicht nach dem gesetzlichen Modell des Betriebsrats, sondern nach alternativen Regeln gebildet und konzipiert sind.

Dies verwundert auch nicht, stellt das Betriebsverfassungsgesetz als weitgehend nicht dispositive Regelung für den Betriebsrat doch in der in den Augen vieler Wirtschaftsvertreter ein veraltetes, wenig flexibles und hoch bürokratisches und damit teures Modell dar, das außerhalb von Deutschland beispiellos ist. So bezeichnen ausländische Wirtschaftsvertreter und insbesondere Investoren unser deutsches Modell eines Betriebsrats oft als „silly german feature“.

Die Vorteile einer alternativen Arbeitnehmervertretung

Die Vorteile einer alternativen Arbeitnehmervertretung (im folgenden „Belegschaftsausschuss“ genannt) liegen daher auf der Hand. Sowohl was die Wahl eines solchen Gremiums als auch was dessen Rechte anbelangt, ist man nicht an die starren Regeln des Betriebsverfassungsgesetzes gebunden. Vielmehr wird in der Praxis für den Belegschaftsausschuss eine Satzung erarbeitet, die sich konkret an den betrieblichen Bedürfnissen und Interessen der Belegschaft orientiert. Das Betriebsverfassungsgesetz demgegenüber gilt nahezu undifferenziert für alle Betriebe aller Größenordnungen und aller Branchen, ohne auf die jeweiligen Besonderheiten des jeweiligen Betriebes Rücksicht zu nehmen.

Dies führt in der Praxis häufig dazu, dass insbesondere viele Beteiligungsrechte des Betriebsrats in bestimmten Betrieben nicht praktikabel sind, also an der betrieblichen Praxis vorbeigehen. Man denke nur an den Automobilzulieferer, der für seine Hauptkunden kurzfristig Teile produzieren muss, um bei seinem Kunden einen Bandstillstand zu vermeiden und die gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG erforderliche Zustimmung seines Betriebsrats hierzu nicht bekommt. Wenn dieser sich nicht rechtswidrig verhalten will, kann er die Überstunden nicht anordnen und verliert wahrscheinlich seinen wichtigsten Kunden, nur weil das Betriebsverfassungsrecht und in dessen Auslegung durch das Bundesarbeitsgericht keine einseitigen Maßnahmen des Arbeitgebers in solchen Eilfällen zulässt. Realitätsfremder geht es kaum!

Beteiligungsrechte des Belegschaftsausschusses

Nun heißt das aber nicht, dass man einem Belegschaftsausschuss keine spürbaren Beteiligungsrechte einräumen sollte, diese sollten jedoch so ausgestaltet sein, dass sie den konkreten wirklich maßgeblichen Interessen der Arbeitnehmer und des Betriebs gerecht werden und insbesondere für die Praxis handhabbar sind. Um hier die tatsächliche Interessenlage auszuloten, bietet es sich an, die Satzung einer solchen Arbeitnehmervertretung nicht einseitig vom Arbeitgeber festzulegen, sondern in einem Dialog mit Belegschaftsvertretern im Rahmen eines Projektes auszuarbeiten. Dies erhöht die Akzeptanz der Satzung und damit der Institution des Belegschaftsausschusses erheblich.

In der Satzung können dann die konkreten betrieblichen Belange und die konkrete betriebliche Situation deutlich besser abgebildet werden als im abstrakten für alle Betriebe geltenden Betriebsverfassungsgesetz. So können unbestimmte Rechtsbegriffe, die im Betriebsverfassungsgesetz häufig verwendet werden und die in der Praxis noch häufiger zu Streitigkeiten zwischen die Betriebsparteien führen, so weit wie möglich vermieden werden.

Hier nur einige Beispiele:

Wenn es im Betriebsverfassungsgesetz in § 37 Abs. 2 BetrVG heißt, dass sich die Betriebsratsmitglieder von der Arbeit freistellen können, „wenn und soweit dies nach Umfang und Art des Betriebs zur ordnungsgemäßen Durchführung ihrer Aufgaben erforderlich ist“, darf es nicht verwundern, dass es in der Praxis sehr häufig völlig unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, was denn in welchen zeitlichen Umfang erforderlich ist. In einer Satzung für einen Belegschaftsausschuss sollte der Umfang der Freistellung und im Übrigen auch der Schulungsansprüche konkret und eindeutig festgelegt werden.

Wenn es im Betriebsverfassungsgesetz in § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG heißt, der Betriebsrat habe ein echtes Mitbestimmungsrecht bei Fragen der „betrieblichen Ordnung“, liegt es auf der Hand, dass mit einer solchen Formulierung mehr Rechtsunsicherheit als Klarheit geschaffen wird. In einer Satzung kann man klar und eindeutig formulierte Regeln schaffen, welche konkreten Tatbestände welcher Art der Beteiligung (echte Mitbestimmung, Vorschlagsrechte, Beratungsrechte, Informationsrechte) unterliegen sollen.

Während schließlich im Betriebsverfassungsgesetz in § 5 Abs. 3 BetrVG geregelt wird, dass der Betriebsrat leitende Angestellte nicht vertritt und, was den Begriff des leitenden Angestellten anbelangt, dieser so schwammig definiert wird, dass der Gesetzgeber selbst in § 5 Abs. 4 BetrVG Regeln dafür schafft, was denn „im Zweifel gelten soll, kann man demgegenüber in einer Satzung für einen Belegschaftsausschuss konkret die Funktionen der Mitarbeiter benennen, die vom Belegschaftsausschuss nicht vertreten werden sollen.

Durch konkrete Beschreibung der Rechte des Belegschaftsausschusses in der Satzung lassen sich also Streitigkeiten von vornherein vermeiden. Es kommt zu einer gelebten vertrauensvollen Zusammenarbeit, die nicht davon lebt, ständig Streitigkeiten vor dem Arbeitsgericht oder der Einigungsstelle auszutragen, sondern gemeinsam Lösungen zum Wohl der Belegschaft und des Betriebs zu finden.

Deshalb stellt eine solche alternative Arbeitnehmervertretung nicht nur – wie von Gewerkschaften gerne dargestellt – einen „zahnlosen Tiger“ dar, sondern eine praxisbewährte Methode, um die für die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens notwendige Flexibilität zu erhalten und unnötige Bürokratiekosten zu sparen und jedenfalls einen Teil der ersparten Mittel der Belegschaft besser direkt zugutekommen zu lassen. Ich begleite solche alternativen Mitbestimmungsmodelle schon seit einigen Jahrzehnten und kann nur Positives berichten. Auch ohne gerichtliche Auseinandersetzungen halten sich in der Praxis beide Seiten an die durch die Satzung festgelegten Spielregeln. Der Arbeitgeber kann sich auch nichts anderes leisten, weil die Bildung eines Belegschaftsausschusses ja rechtlich nicht die Wahl eines Betriebsrats verhindert. Würde der Arbeitgeber die Rechte des Belegschaftsausschusses missachten, wäre die Bildung eines Betriebsrats nur noch eine Frage der Zeit.

Die Wahl

Natürlich benötigt auch ein Belegschaftsausschuss eine demokratische Legitimation. Seine Mitglieder sollten also auf jeden Fall gewählt und nicht etwa vom Arbeitgeber bestimmt werden. Auch was die Wahl anbelangt, können deutlich demokratischere Regeln gelten als bei der Wahl des Betriebsrats. Bei der Betriebsratswahl kann jeder Wähler alle Kandidaten bzw. alle Listen wählen, was in der Praxis sehr häufig dazu führt, dass Betriebsratsgremien von Arbeitnehmern einer oder mehrerer großer Abteilungen dominiert werden, weil die Arbeitnehmer kleinere Abteilungen sich infolge ihrer Stimmenzahl nicht durchsetzen können. Belegschaftsausschüsse werden demgegenüber typischerweise über Pools gewählt. Es werden also abteilungs- oder bereichsbezogene Pools gebildet, aus denen dann ein oder mehrere Mitglieder in die Belegschaftsausschuss gewählt werden. Die Anzahl der zu wählenden Poolmitglieder hängt dann von der Größe der jeweiligen Abteilung ab. Damit ist gewährleistet, dass zumindest annähernd sämtliche Gruppen des Betriebs im Belegschaftausschuss vertreten sind. Dann hat jeder Arbeitnehmer auch seinen oder seine Ansprechpartner im Ausschuss, den oder die er bei Problemen ansprechen kann.

Ein so gewählter Belegschaftsausschuss ist ein äußerst effektives Gremium, um die Interessen aller Arbeitnehmer zu vertreten. Er stellt eine zumeist überlegene Alternative zum Betriebsrat dar – wohlgemerkt: eine Alternative, keine Ergänzung. Wegen des Alleinvertretungsanspruchs eines Betriebsrats kann neben diesem keine alternativer Arbeitnehmervertretung gebildet werden. Also: Entweder-oder. Bei Bildung eines Betriebsrats verliert ein gewählter Belegschaftsausschuss sein Amt.

Rechtliche Einordnung des Belegschaftsausschusses

Auch wenn die Bildung eines Belegschaftsausschusses die Wahl eines Betriebsrats rechtlich nicht ausschließt, so tut sie es in der Praxis jedoch faktisch. Ich habe in den 30 Jahren meiner anwaltlichen Tätigkeit nur sehr wenige Betriebe erlebt, in denen ein funktionierender Belegschaftsausschuss existierte und die Belegschaft trotzdem die Notwendigkeit gesehen hat, einen Betriebsrat zu bilden. Auch entsprechende Vorstöße von Gewerkschaften, die naturgemäß wegen ihres fehlenden Einflusses auf Belegschaftsausschüsse die Bildung von Betriebsräten vorantreiben wollen, sind dann in den meisten Fällen am Widerstand der Belegschaft gescheitert.

Rechtlich ist ein Belegschaftsausschuss allerdings nicht rechtsfähig. Mit ihm können also keine Verträge, wie etwa Betriebsvereinbarungen abgeschlossen werden. Es handelt sich vielmehr um eine Art selbstständige Betriebsabteilung mit dem Abteilungszweck der Vertretung der Mitarbeiterinteressen gegenüber dem Arbeitgeber, wobei sich in der Praxis das Verhältnis deutlich weniger konfrontativ als vielmehr konsensual darstellt.

Ein Versuch ist es auf jeden Fall wert! Ein Betriebsrat kann für den unwahrscheinlichen Fall des Scheiterns immer noch gebildet werden.

Über den Autor

Dr. Dirk Schreiner ist als Rechtsanwalt im Attendorner Büro der Kanzlei tätig. Er ist Partner und Gründer der Sozietät.

Nach seinem Studium an der Rheinischen-Wilhelms-Universität Bonn und der Universität Münster promovierte er im Jahre 1987. Anschließend arbeitete er in einer OLG-Kanzlei in Hamm sowie in einer Arbeitsrechtsboutique in Münster. Im Jahre 1993 gründete er die Anwaltskanzlei Dr. Schreiner + Partner.