Aufgrund des Arbeitsvertrages ist der Arbeitnehmer nach § 611a Abs.1 BGB verpflichtet, die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen. Der Arbeitgeber muss im Gegenzug gem. § 611a Abs. 2 BGB die vereinbarte Vergütung zahlen. Eine Störung dieses Gegenseitigkeitsverhältnisses wird durch die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers herbeigeführt. Nach §275 Abs.1 BGB muss der Arbeitnehmer seiner Arbeitsleistung nämlich nicht mehr erbringen, wenn sie ihm objektiv oder subjektiv unmöglich wird. Nach §275 Abs.3 BGB gilt dies auch, wenn die Arbeitsleistung ihm infolge einer Erkrankung wegen der Gefahr der weiteren Verschlechterung seines Gesundheitszustandes nicht zugemutet werden kann.
Arbeitnehmer im Krankheitsfall wirtschaftlich abzusichern, ist eine der Kernerrungenschaften sozialer Sicherung.
Bei der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit handelt es sich um einen Massentatbestand. Im Jahr 2023 waren sozialversicherungspflichtig beschäftigte Arbeitnehmer im Durchschnitt 15 Tage krank (Quelle: Statistisches Bundesamt (Destatis)). Dieses allgemeine Lebensrisiko trägt zunächst der Arbeitgeber. Er ist nach Ablauf einer vierwöchigen Wartefrist gem. §§ 3 Abs.1, 4 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) für sechs Wochen zur Lohnfortzahlung in vollem Umfang verpflichtet. Erst im Anschluss haben gesetzlich versicherte Arbeitnehmer einen Krankengeldanspruch gegenüber der Krankenkasse, der der Höhe nach auf 70 % des regelmäßigen Bruttoarbeitsentgelts begrenzt ist.
Elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Kann der Arbeitnehmer aufgrund Arbeitsunfähigkeit einer im Arbeitsvertrag festgelegten Tätigkeit nicht nachkommen, wird dies durch eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung von einem Vertragsarzt bestätigt.
An die Stelle des „gelben Scheins“ ist die sog. elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) getreten.
Der Arbeitnehmer, der arbeitsunfähig erkrankt ist und Entgeltfortzahlung geltend macht, weist seine bestehende Arbeitsunfähigkeit regelmäßig durch die Vorlage des ärztlichen Attestes – der „Krankschreibung“ – nach. Seit dem 01.01.2023 ist eine Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch gesetzlich versicherte Arbeitnehmer nach § 5 Abs.1a EFZG nicht mehr nötig, da die Arbeitgeber verpflichtet sind, die von den Krankenkassen elektronisch zur Verfügung gestellten Arbeitsunfähigkeitsdaten bei den Krankenkassen abzurufen. Dieses Verfahren gilt allerdings nur für gesetzlich krankenversicherte Beschäftigte.
Aus der Bringschuld des Arbeitnehmers wird insofern eine Holschuld des Arbeitgebers gegenüber der Krankenkasse. Unberührt davon bleibt jedoch die Mitteilungspflicht des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber. Er ist insofern weiterhin verpflichtet, die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich mitzuteilen.
Dass eine solche Mitteilung – obwohl dies nicht explizit in § 5 Abs.1a EFZG normiert ist – erforderlich ist, ist maßgeblich dafür, dass der Arbeitgeber überhaupt die Befugnis zum Abruf der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsmeldung bekommt.
Ablauf mit der neuen eAUB
Übermittelung der Daten durch den Arzt an die Krankenkasse
Nachdem der Arzt die Arbeitsunfähigkeit festgestellt hat, übermittelt er die notwendigen Daten an die Krankenkasse des Arbeitnehmers.
Nach Eingang der Arbeitsunfähigkeitsdaten erstellt die Krankenkasse eine Meldung zum Abruf für den Arbeitgeber mit folgenden Daten:
- Name des Arbeitnehmers
- Beginn und Ende der Arbeitsunfähigkeit
- Datum der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit
- Kennzeichnung als Erst- oder Folgebescheinigung
- Anhaltspunkte für einen Arbeitsunfall
Dabei wird allerdings nicht übermittelt, welcher Arzt mit welcher Fachrichtung die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt hat.
Arbeitnehmer informieren Arbeitgeber
Anschließend muss der Arbeitnehmer seiner Pflicht zur Krankmeldung nachkommen, d.h. der Arbeitgeber muss über die festgestellte Arbeitsunfähigkeit informiert werden.
Abruf der eAU durch den Arbeitgeber bei der Krankenkasse
Der Arbeitgeber ruft sodann die eAU direkt bei der Krankenkasse über ein systemgeprüftes Entgeltabrechnungs-Programm ab.
Um mögliche Unterschiede zwischen der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und dem sog. „gelben Schein“ feststellen zu können, ist zunächst zu untersuchen, was es bisher zu beachten galt.
Prozessual gilt grundsätzlich immer folgendes: Besteht keine gesetzliche Beweislastverteilung, muss derjenige, der sich auf die für ihn günstige Norm beruft, deren Voraussetzungen darlegen und diese im Streitfall auch beweisen.
Der Arbeitnehmer hat die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit als Anspruchsvoraussetzung insofern darzulegen und notfalls auch zu beweisen, um einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung i.S.d. §3 Abs.1 EFZG zu haben.
Mit der Vorlage des sog. „gelben Scheins“ ist er diesen Anforderungen regelmäßig vollständig nachgekommen. Das BAG entschied in seinem Urteil vom 08.09.2021 (Az.: 5 AZR 149/21) allerdings, dass der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kein absoluter Beweiswert zukommt und eine Erschütterung dessen mithin möglich ist.
Erschütterung des Beweiswertes
Sofern der Arbeitnehmer eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt hat, muss der Arbeitgeber seinerseits aktiv werden, wenn er die Entgeltfortzahlung nicht leisten will.
Nach der Entscheidung des BAG vom 13.12.2023 Az.: 5 AZR 137/23) ist „die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Nach §7 Abs.1 Nr.1 EFZG reicht die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung i.S.d. §5 Abs.1, S.2 EFZG aus, um dem Arbeitgeber das Recht zur Leistungsverweigerung zu entziehen.“
Bestreitet der Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit mit Nichtwissen, kann dadurch alleine der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht erschüttert werden.
Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat die Wirkung einer tatsächlichen Vermutung im Sinne eines Anscheinsbeweises. Der Arbeitgeber muss folglich nicht die Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers beweisen, wenn er die Fortzahlung des Arbeitsentgelts verweigern will, er muss jedoch den Anscheinsbeweis der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern.
Er kann insofern Tatsachen vortragen, die die Richtigkeit der Bescheinigung infrage stellen und aus denen sich ernstliche Zweifel an der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit ergeben.
Solche Tatsachen können bspw. sein, dass:
- die Arbeitsunfähigkeit durch den Arbeitnehmer für einen Zeitraum angekündigt wurde, in dem der Arbeitgeber keinen Urlaub gewährte,
- es wiederholt Krankschreibungen in zeitlicher Nähe zu dem Urlaub des Arbeitnehmers oder Wochenend- und Feiertagen gibt,
- sich der Arbeitnehmer im Widerspruch zu seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit verhält, indem er während seiner Arbeitsunfähigkeit eine ähnliche Tätigkeit leistet (z.B. körperlich anstrengende Arbeit), zu der er auch arbeitsvertraglich verpflichtet ist,
- die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ohne vorherige Untersuchung durch den Arzt ausgestellt wurde,
- der Arbeitnehmer eine rückdatierte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt,
- nach Kündigung des Arbeitsverhältnisses, eine „passgenaue“ Arbeitsunfähigkeit für den Zeitraum der Kündigungsfrist bescheinigt wird
Möglichkeiten der Beweisführung durch den Arbeitnehmer
Kann der Arbeitgeber durch seinen Tatsachenvortrag den anfänglichen Beweiswert erschüttern, muss der Arbeitnehmer infolgedessen weiteren Beweis für eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit führen.
Dazu ist ein substantiierter Vortrag erforderlich. Der Arbeitnehmer muss insofern darlegen,
- welche Krankheiten vorlagen,
- welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und
- welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet worden sind.
Bewiesen werden kann das insbesondere durch die Vernehmung des behandelnden Arztes nach Befreiung von der Schweigepflicht. Auch die Einholung eines Sachverständigengutachtens oder einer Feststellung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung kommt in Betracht, um die Arbeitsunfähigkeit zu belegen.
Prozessuale Einordnung des sog. „gelben Scheins“
Den normativen Anknüpfungspunkt der Darlegungserleichterung für den Arbeitnehmer bildet §5 Abs.1, S.2-4 EFZG. Diesem lässt sich entnehmen, dass der Arbeitnehmer auch im Prozess mit der Vorlage der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung seiner Darlegungs- und Beweislast entspricht. Ansonsten wäre er bei einfachem Bestreiten des Arbeitgebers mit Nichtwissen bereits zur Offenlegung seiner Gesundheitsdaten verpflichtet, was der Gesetzgeber mit §5 EFZG gerade für nicht angemessen hält. Die Interessenbewertung des §5 EFZG strahlt damit auf das Prozessrecht aus.
Sofern man die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in eine prozessuale Beweiskategorie einordnen möchte, stellt sie eine bloße Privaturkunde dar, der nach §416 ZPO lediglich formelle Beweiskraft zukommt. Formelle Beweiskraft bedeutet, dass die in der Urkunde enthaltene Erklärung, also in diesem Fall die Feststellung der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit, durch den ausstellenden Arzt abgegeben wurde. Eine materielle Beweiskraft, dass der Arbeitnehmer tatsächlich arbeitsunfähig krank ist, hat die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als reine Privaturkunde demgegenüber nicht.
Ob aus der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung darauf geschlossen werden kann, dass der Arbeitnehmer infolge Erkrankung arbeitsunfähig war, ist eine Frage der freien Beweiswürdigung nach §286 ZPO. Gem. §286 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten ist.
Unterschiede zwischen der eAU und dem sogenannten „gelben Schein“
Fraglich ist, welche prozessuale Veränderung der Wechsel von der bisherigen Nachweis- zu einer bloßen Feststellungspflicht bewirkt.
Der Arbeitnehmer kann verfahrensrechtlich den Beweis nicht durch Übermittlung des Datensatzes an das Gericht antreten, da (bislang) lediglich der Arbeitgeber hierauf Zugriff hat. Es müsste insofern nach §371 Abs.2, S.1 Alt.2 i.V.m. §144 ZPO beantragt werden, den Arbeitgeber zur Vorlage des elektronischen Dokuments zu verpflichten.
Auf der Ebene der Darlegungslast bleibt es, um das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers zu schützen, im Grundsatz bei der bisherigen Erleichterung. Der Arbeitnehmer muss insofern nicht seine konkrete Erkrankung und die damit einhergehenden Einschränkungen vortragen, sondern weiterhin nur die Tatsache der ärztlichen Feststellung seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Allerdings besteht zusätzlich die Verpflichtung arztbezogene Daten, also den Namen, Sitz und die Fachrichtung des Arztes ergänzend zu benennen ebenso wie die Art der Feststellung, weil es für diese Tatsachen keine Darlegungserleichterung gibt. Diese Daten könnten im Prozess durch Zeugenbeweis des Arztes nachgewiesen werden.
Der bloße Wechsel des Mediums von einer Privaturkunde i.S.d. §416 ZPO hin zu einem elektronischen Dokument führt im Rahmen der Beweiswürdigung nicht automatisch zu einer anderen beweisrechtlichen Bewertung. Der abrufbare Datensatz ist beweisrechtlich zwar keine Urkunde, sondern gem. §371 Abs.1, S.2 ZPO ein Augenscheinobjekt, allerdings können über §371a ZPO grds. elektronische Dokumente den Privaturkunden angesichts des Beweiswertes gleichgestellt werden.
Folgt man allerdings in diesem Fall der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 19/13959) sollen die von den Krankenkassen für Arbeitgeber zum Abruf bereitgestellten Daten einen geringeren Beweiswert haben. An der Papierbescheinigung soll festgehalten werden, solange es kein geeignetes elektronisches Äquivalent für den Nachweis gegenüber dem Arbeitgeber mit gleich hohem Beweiswert gibt. Insofern gibt der Gesetzgeber selbst zu, dass das elektronische Verfahren im Vergleich zur Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in Papierform anfälliger für Störungen ist. Die Störungen ergeben sich naturgemäß dadurch, dass die vom Arbeitgeber abzurufenden Daten vorher von einem Arzt eingegeben werden und im Anschluss von der Krankenkasse aufbereitet werden müssen. Es kann zu verschiedenen Fällen kommen, in denen keine ordnungsgemäße Übermittlung erfolgt. Dazu gehört beispielsweise, dass der Arzt der Krankenkasse die Daten verspätet übermittelt oder der Arbeitnehmer die Krankenkasse wechselt und infolgedessen die Daten an die falsche Krankenkasse übermittelt werden. Darüber hinaus kann es auch zu Fehlern oder technischen Störungen bei der Übermittlung der Daten von der Krankenkasse an den Arbeitgeber kommen. In diesen Fällen stellt sich also in Frage, ob tatsächlich Arbeitsunfähigkeit vorliegt oder nicht.
Insofern wird man den elektronischen Daten nur einen geringen Beweiswert zugestehen können. Im Streitfall wird der Arbeitnehmer deshalb seine Arbeitsunfähigkeit durch eine Papierbescheinigung untermauern müssen, sodass er sich eine Bescheinigung nachträglich vom Arzt zur Vorlage beim Arbeitgeber ausstellen lassen müsste. Damit bleibt die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in Papierform als Beweismittel mit dem von der Rechtsprechung zugebilligten hohen Beweiswert erhalten.
Praxishinweise
Bei Zweifeln am tatsächlichen Bestehen der Arbeitsunfähigkeit, wird es in der Regel keinen Erfolg versprechen, den Arbeitnehmer zu befragen, da dieser wohl nicht zugeben wird, dass er nicht wirklich arbeitsunfähig war. Eine Pflicht, sich zu den Hintergründen der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erklären, trifft den Arbeitnehmer davon abgesehen regelmäßig sowieso nicht.
Bei dem bisherigen „gelben Schein“ konnte ggf. unter Beachtung der Fachrichtung und des Namens des behandelnden Arztes der Schluss auf eine Erkrankung und bei häufigem Ärztewechsel auf eine betrügerische Absicht des Arbeitnehmers gezogen werden. Mit Einführung der eAU sind dem Arbeitgeber diese Erkenntnismöglichkeiten genommen, da die abrufbare Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung diese Informationen nicht mehr enthält.
Dem Arbeitgeber bleibt lediglich die Möglichkeit der Analyse der zeitlichen Abfolge zwischen Krankmeldung und Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sowie deren Dauer.
Es ist ggf. auch das Verhalten des Arbeitnehmers akribisch zu beobachten, um Anzeichen sammeln zu können, die den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern könnten. Arbeitgebern ist anzuraten, ihre gesammelten Erkenntnisse sorgfältig und detailliert zu verschriftlichen.