13. Juli 2021
Kündigungsrecht
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Entwendung von Desinfektions­mittel kann außer­ordentliche Kündigung rechtfertigen

LAG Düsseldorf (5. Kammer), Urteil vom 14.01.2021, Az.: 5 Sa 483/20

Amtlicher Leitsatz:

Die Entwendung einer 1-Liter-Flasche Desinfektionsmittel, die der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern während der Corona-Pandemie zur Verfügung gestellt hat, rechtfertigt unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls die außerordentliche Kündigung eines langjährig bestehenden Arbeitsverhältnisses ohne vorherige Abmahnung.

1. Sachverhalt

Der Kläger war bei der Beklagten seit dem 15.03.2004 beschäftigt.

Im Zuge der Corona-Pandemie stellte die Beklagte ihren Mitarbeitern Desinfektionsmittel zu Verfügung. Da es immer wieder vorkam, dass Desinfektionsmittel aus den Waschräumen der Beklagten entwendet wurde, wies die Beklagte mit Aushängen darauf hin, dass das Mitnehmen von Desinfektionsmitteln eine fristlose Kündigung und Anzeige zur Folge habe.

Am 23.03.2020 entnahm der Kläger während seiner Arbeitszeit dem für alle Mitarbeiter zugänglichen Materialkäfig eine für ca. 300 Handdesinfektionen ausreichende 1-Liter-Flasche Desinfektionsmittel sowie eine Rolle Handtuchpapier und verbrachte diese in den Kofferraum seines Pkw. Als der Kläger an diesem Tag nach Arbeitsende das Werksgelände verlassen wollte, fand eine Fahrzeugkontrolle statt, bei der die entwendeten Gegenstände gefunden wurden. In dem anschließend noch am gleichen Tag durchgeführten Personalgespräch teilte der Kläger auf Nachfrage mit, er habe das Desinfektionsmittel und die Papiertücher während der Waschsortierung aus dem Materialkäfig genommen und in sein Auto verbracht, weil es auf den Toiletten kein Desinfektionsmittel mehr gegeben habe. Das Desinfektionsmittel hatte unter Beachtung der coronabedingten Knappheit im Frühjahr 2020 ein Wert i. H. v. etwa 40,00 EUR.

Nach Anhörung des Betriebsrats kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger. Der Kläger erhob anschließend Kündigungsschutzklage vor dem ArbG Mönchengladbach, dass die Klage mit Urteil vom 01.07.2020 (Az.: 6 Ca 632/20) abgewiesen hat. Gegen dieses Urteil hat der Kläger beim LAG Düsseldorf Berufung eingelegt

2. Die Entscheidung des LAG Düsseldorf

Das LAG Düsseldorf hat die Berufung für zulässig, aber unbegründet erachtet.

Nach Auffassung des LAG Düsseldorf sei das Verhalten des Klägers, das Verbringen einer 1-Liter-Flasche Desinfektionsmittel in seinen privaten Pkw und der Entzug des Zugriffs auf diese durch die Beklagte und die übrigen Mitarbeiter, „an sich“ geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB darzustellen. Durch rechtswidrige und vorsätzliche (ggf. strafbare) Handlungen unmittelbar gegen das Vermögen seines Arbeitgebers, verletze ein Arbeitnehmer zugleich in schwerwiegender Weise seine schuldrechtliche Pflicht zur Rücksichtnahme gemäß § 241 Abs. 2 BGB und missbrauche dadurch zugleich das in ihn gesetzte Vertrauen. Derartiges Verhalten könne selbst dann einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung darstellen, wenn die rechtswidrige Handlung Sachen von nur geringem Wert betrifft oder zu einem nur geringfügigen oder sogar zu gar keinem Schaden geführt hat. Selbst eine Gebrauchsanmaßung könne im Einzelfall eine kündigungsrelevante Pflichtverletzung darstellen.

Ist ein Sachverhalt „an sich“ geeignet, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen, sei weiter zu prüfen, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung zumutbar ist, und in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Eine Kündigung scheide zudem aus, wenn schon mildere Mittel und Reaktionen von Seiten des Arbeitgebers, z.B. eine Abmahnung, geeignet gewesen wären, beim Arbeitnehmer künftige Vertragstreue zu bewirken.

Einer Abmahnung bedurfte es nach Auffassung des LAG Düsseldorf nicht. Ein Arbeitnehmer, der in Zeiten einer Pandemie dringend benötigtes Desinfektionsmittel dem Zugriff seines Arbeitgebers und seiner Arbeitskollegen entzieht, obwohl er weiß, dass dieses Desinfektionsmittel schwer zu beschaffen ist, könne nicht damit rechnen, dass der Arbeitgeber ein solches Verhalten lediglich mit einer Abmahnung oder einer fristgerechten Kündigung ahnden wird. Auch die Interessenabwägung ging vorliegend zu Lasten des Arbeitnehmers aus. Zwar hätte sich der Kläger durch seine lange Arbeit im Betrieb der Beklagten einen erheblichen sozialen Besitzstand erworben und auch sein Lebensalter von 42 Jahren sowie seine Unterhaltspflichten seien zu seinen Gunsten berücksichtigt worden. Jedoch überwiege das Arbeitgeberinteresse an einer fristlosen Kündigung, da das Verhalten des Klägers aufgezeigt hätte, dass er seine Eigeninteressen rücksichtslos über die Interessen der Beklagten und der übrigen Arbeitnehmer stelle und dabei sogar Gesundheitsgefährdungen anderer Arbeitnehmer in Kauf nehme. Zudem sei der Wert des Desinfektionsmittels von ca. 40,00 EUR nicht als geringfügig anzusehen, insbesondere da zum damaligen Zeitpunkt die Verfügbarkeit von Desinfektionsmitteln im Frühjahr 2020 insgesamt sehr eingeschränkt gewesen sei.

3. Einordnung der Entscheidung

Die Entscheidung des LAG Düsseldorf überzeugt. Ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung kann nach ständiger Rechtsprechung des BAG auch gegeben sein, wenn sich das Vermögensdelikt des Arbeitnehmers nur auf eine geringwertige Sache bezieht oder nur zu einem geringfügigen, möglicherweise gar keinem Schaden für den Arbeitgeber geführt hat (so etwa BAG, Urteil vom 10.06.2010, AZ. 2 AZR 541/09). Für die Frage, ob es einem Arbeitgeber zumutbar ist, den Arbeitnehmer (nach einer Abmahnung) trotz des Fehlverhaltens weiter zu beschäftigen, ist es dabei von Bedeutung, ob der Arbeitnehmer bereits lange Zeit in einer Vertrauensstellung beschäftigt war, ohne vergleichbare Pflichtverletzungen begangen zu haben. Nach der Rechtsprechung des BAG wird eine langjährige Vertrauensbeziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht notwendigerweise durch eine erstmalige Vertrauensenttäuschung vollständig und unwiederbringlich zerstört. Je länger das Arbeitsverhältnis ungestört bestanden hat, desto eher kann das Arbeitsgericht zu der Prognose gelangen, dass der in einer langjährigen Beschäftigungszeit erarbeitete „Vorrat an Vertrauen“ nicht durch einen erstmaligen Vorfall vollständig aufgezehrt wird; so jedenfalls das BAG, Urteil vom 10.06.2010, AZ: 2 AZR 541/09, bzgl. der Kassiererin Emmely nach 30-jähriger Beschäftigungszeit und Unterschlagung von 2 Pfandbons im Wert von insgesamt 1,30 EUR:

„Die Kl. hat durch eine beanstandungsfreie Tätigkeit als Verkäuferin und Kassiererin über dreißig Jahre hinweg Loyalität zur Bekl. gezeigt. […] Das in dieser Beschäftigungszeit von der Kl. erworbene Maß an Vertrauen in die Korrektheit ihrer Aufgabenerfüllung und in die Achtung der Vermögensinteressen der Bekl. schlägt hoch zu Buche. Angesichts des Umstands, dass nach zehn Tagen Wartezeit mit einer Nachfrage der in Wahrheit berechtigten Kunden nach dem Verbleib von Leergutbons über Cent-Beträge aller Erfahrung nach nicht mehr zu rechnen war, und der wirtschaftlichen Geringfügigkeit eines der Bekl. entstandenen Nachteils ist es höher zu bewerten als deren Wunsch, nur eine solche Mitarbeiterin weiterzubeschäftigen, die in jeder Hinsicht und ausnahmslos ohne Fehl und Tadel ist. Dieser als solcher berechtigte Wunsch macht der Bekl. die Weiterbeschäftigung der Kl. trotz ihres Pflichtenverstoßes mit Blick auf die bisherige Zusammenarbeit nicht unzumutbar. Objektiv ist das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Kl. nicht derart erschüttert, dass dessen vollständige Wiederherstellung und ein künftig erneut störungsfreies Miteinander der Parteien nicht in Frage käme.“

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