Im November 2021 äußerte sich das Bundesarbeitsgericht zur Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers beim Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen und setzte seine bisherige Rechtsprechung zur Mitwirkungsobliegenheit fort (vgl. BAG, Urteil vom 30.11.2021, Az. 9 AZR 143/21).
Bekanntlich hat jeder Arbeitnehmer in jedem Kalenderjahr – nach Maßgabe des Bundesurlaubsgesetzes (BurlG) – einen befristeten Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub. Der Urlaubsanspruch entsteht jeweils mit Beginn des Urlaubsjahres und erlischt (verfällt) gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG mit Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahres, es sei denn, die Erfüllung war wegen dringender betrieblicher Gründe (bspw. Auftragslage am Jahresende etc.) oder in der Person des Arbeitnehmers liegender Gründe (bspw. Arbeitsunfähigkeit am Jahresende etc.) nicht möglich. In diesem Fall überträgt sich der Urlaub kraft Gesetzes „von selbst“ gemäß § 7 Abs. 3 S. 2 BUrlG auf die ersten drei Monate des Folgejahres (sog. Übertragungszeitraum). Der Urlaub ist dann im Übertragungszeitraum zu nehmen. Andernfalls verfällt er in der Regel.
Kann der Urlaub wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses – insbesondere infolge einer Kündigung – nicht mehr genommen werden, ist dieser Urlaubsanspruch gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten.
Schwerbehinderte Menschen haben gemäß § 208 SGB IX einen Anspruch auf zusätzlichen Urlaub von fünf Tagen. Wegen § 151 Abs. 3 SGB IX gilt dieser Anspruch auf Zusatzurlaub aber nicht für die nach § 2 Abs. 3 SGB IX gleichgestellten Menschen. Auch der Zusatzurlaub ist nach § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten, falls er wegen der Beendigung nicht mehr genommen werden konnte.
Im Jahr 2018 entschied der Europäische Gerichtshof – und im Jahr 2019 das Bundesarbeitsgericht folgend –, dass der Anspruch auf den gesetzlichen Erholungsurlaub nur dann am Ende des Urlaubsjahres verfällt, wenn der Arbeitnehmer zuvor durch den Arbeitgeber über das Bestehen des Anspruchs, dessen Umfang und den Verfall zum Jahresende informiert wurde (vgl. EuGH, Urteil vom 06.11.2018, Az. C-684/16; Urteil vom 06.11.2018, Az. C-619/16; BAG, Urteil vom 19.02.2019, Az. 9 AZR 321/16; Urteil vom 19.02.2019, Az. 9 AZR 541/15; Urteil vom 19.02.2019, Az. 9 AZR 423/16). Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs entspricht § 7 Abs. 3 BUrlG nicht den unionsrechtlichen Vorgaben (Art. 7 RL 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 GRC).
Seit dieser Rechtsprechung trifft die deutschen Arbeitgeber die Obliegenheit, den Arbeitnehmer einmal jährlich, individuell auf seinen Urlaub und den Verfall zum Ende des Urlaubsjahres hinzuweisen. Geschieht dies nicht, überträgt sich der Anspruch auf Erholungsurlaub unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 7 Abs. 3 S. 2 BUrlG. Ein Verfall zum Ende des Urlaubsjahres tritt jedenfalls nicht ein.
Im November 2021 hatte das Bundesarbeitsgericht nunmehr die Rechtsfrage zu klären, ob den Arbeitgeber die Mitwirkungsobliegenheit auch beim Zusatzurlaub nach § 208 SGB IX trifft.
Diese Rechtsfrage beantwortete das Bundesarbeitsgericht mit einem klassischen „es kommt darauf an“.
Obwohl die unionsrechtlichen Vorgaben nicht für den Zusatzurlaub schwerbehinderter Menschen gelten, weil der bundesdeutsche Gesetzgeber Urlaubsregeln frei aufstellen kann, die über den gesetzlichen Mindesturlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz hinausgehen, betonte das Bundesarbeitsgericht dennoch den „Grundsatz der urlaubsrechtlichen Akzessorietät“. Hiernach teilt der Zusatzurlaub das rechtliche Schicksal des gesetzlichen Mindesturlaubs. Vereinfacht gesprochen ist das Bundesarbeitsgericht der Ansicht, dass der Zusatzurlaub nur dann verfällt, wenn auch der gesetzliche Mindesturlaub verfällt. Verfällt dieser nicht – weil der Arbeitgeber seiner Mitwirkungsobliegenheit nicht nachgekommen ist – verfällt auch der Zusatzurlaub nicht.
Allerdings trifft den Arbeitgeber die Mitwirkungsobliegenheit ausnahmsweise dann nicht, wenn es dem Arbeitgeber unmöglich war, den Arbeitnehmer durch seine Mitwirkung in die Lage zu versetzen, den Zusatzurlaub zu realisieren. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Arbeitgeber keine Kenntnis von der Schwerbehinderung hatte oder die Schwerbehinderung nicht offenkundig war.
Aus der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts folgt, dass den Arbeitgeber die Mitwirkungsobliegenheit jedenfalls dann auch hinsichtlich des Zusatzurlaubs schwerbehinderter Menschen trifft, wenn er von der Schwerbehinderung wusste oder diese offenkundig ist.
Der Arbeitgeber sollte – auch in Bezug auf den Zusatzurlaub nach § 208 SGB IX – seine Mitwirkungsobliegenheit sehr sorgfältig wahrnehmen, da andernfalls eine nicht unerhebliche Urlaubsabgeltung im Falle der Beendigung des Arbeitsverhältnisses droht.