10. November 2022
Arbeitszeit, Arbeits- und Gesundheitsschutz, New Work
Autor Dr. jur. Bianca Maiworm LL.M.
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Pflicht zur Arbeitszeit­erfassung - BAG überholt Gesetzgeber

Am 13.09.2022 hat das höchste deutsche Arbeitsgericht für Furore gesorgt und laut veröffentlichter Pressemitteilung geurteilt, dass jeder Arbeitgeber bereits heute verpflichtet sei, ein System vorzuhalten, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann. Das Bundesarbeitsgericht hat damit mit einem Federstrich die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung eingeführt, was der deutschen Gesetzgebung nach 3-jähriger Untätigkeit bislang nicht gelungen war.

Doch was genau ist geschehen?

Viele erinnern sich noch an die CCOO- Entscheidung des europäischen Gerichtshofs vom 14.05.2019, welche auch gerne als Stechuhr-Entscheidung bezeichnet wird. Bereits im Frühling 2019 hat der EuGH entschieden, dass Arbeitgeber im Rahmen der nationalen Gesetzgebung verpflichtet werden müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches System, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann einzuführen. Eine solche Verpflichtung sah das deutsche Arbeitsrecht, insbesondere das Arbeitszeitgesetz in seiner bisherigen Lesart nach der absolut überwiegenden Ansicht der Arbeitsgerichte und Gelehrten nicht vor. Somit bestand seit Mai 2019 ein klarer Auftrag an den deutschen Gesetzgeber, für eine entsprechende gesetzliche Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung zu sorgen. Diesen Auftrag hatte der Gesetzgeber jedoch bislang geflissentlich ignoriert. Dem hat jetzt das Bundesarbeitsgericht ein Ende gesetzt. Es scheint so als hätten die Richter des BAG seit der CCOO-Entscheidung des EuGH nur auf eine Gelegenheit gewartet, Ihre Sicht der Rechtslage zum Thema der verpflichten Arbeitszeiterfassung darlegen zu können. Diese Gelegenheit war nun mit dem Verfahren zum Az. 1 ABR 2 20/21, welches in der Vorinstanz durch das LAG Hamm (27.07.2021- 7 TaBV 9 70/20) verhandelt wurde kommen.

In der Sache ging es um ein Beschlussverfahren des Betriebsrats gegen den Arbeitgeber. Nachdem zuvor noch über eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeiterfassung zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber verhandelt wurde, eine Einigung jedoch nicht zustande kam, entschloss sich die Arbeitgeberin auf die Einführung einer elektronischen Zeiterfassung gänzlich zu verzichten. Daraufhin leitete der Betriebsrat ein Beschlussverfahren zur Einsetzung einer Einigungsstelle zum Thema „Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Einführung und Anwendung einer elektronischen Zeiterfassung“ ein. Die Arbeitgeberin rügte von Beginn an die Zuständigkeit der Einigungsstelle unter Hinweis darauf, dass bei der Einführung einer technischen Einrichtung im Sinne des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG kein Initiativrecht zugunsten des Betriebsrats bestehe, auf dessen Grundlage er die Einführung einer elektronischen Zeiterfassung verlangen könne. Nachdem das LAG Hamm zweitinstanzlich urteilte, dass dem Betriebsrat über § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG sehr wohl eine solches Initiativrecht zur Einführung einer elektronischen Zeiterfassung zustehe, lehnte das Bundesarbeitsgericht am 13.09.2022 auf die durch die Arbeitgeberin geführte Rechtsbeschwerde hin ein solches Initiativrecht ausdrücklich ab.

Auch wenn diese Entscheidung zunächst ein Lächeln auf das Gesicht von Arbeitgebern zu zaubern vermag, verpflichtet dieses Lächeln sehr schnell bei näherer Betrachtung der Entscheidungsbegründung, wie sie in der Pressemitteilung vom Dienstag kurz umrissen wird. Das Bundesarbeitsgericht begründet seine Entscheidung völlig überraschend mit dem Eingangssatz des § 87 Abs. 1 BetrVG. Danach kommt der allgemeinen Systematik nach dem Betriebsrat generell nur dann ein Mitbestimmungsrecht in sozialen Angelegenheiten zu, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht. Allerdings existiere bereits eine gesetzliche Regelung, welche den Arbeitgeber zur Erfassung der Arbeitszeit seiner Mitarbeiter verpflichte, nämlich § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG. Bei unionsrechtskonformer Auslegung dieser Norm sei der Arbeitgeber bereits heute gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen, sodass kein Raum für ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats verbleibe.

Damit hat das Bundesarbeitsgericht durch die Hintertür mit einem Paukenschlag zum Ausdruck gebracht, dass es Arbeitgeber bereits jetzt auf der Grundlage der aktuell zur Verfügung stehenden Gesetze, nämlich § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG, als verpflichtet betrachtet, die Arbeitszeiten ihrer Arbeitnehmer zu erfassen. Mit diesem Beschluss erteilt das Bundesarbeitsgericht somit der absolut vorherrschenden Rechtsauffassung, dass es zunächst eines nationalen Gesetzgebungsaktes bedarf, um die Arbeitgeber zur Erfassung der Arbeitszeit zu verpflichten eine glasklare Absage. Diese Verpflichtung besteht bereits jetzt!

Was bedeutet dies für Arbeitgeber der Praxis?

Arbeitgeber sollten schnellstmöglich ein Arbeitszeiterfassungssystem einführen. Da die Entscheidungsgründe wohl noch etwas auf sich warten werden lassen, stehen Arbeitgeber damit zum aktuellen Zeitpunkt vor der Herausforderung den ganz klaren Auftrag durch das Bundesarbeitsgerichts erhalten zu haben, ein Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen, ohne dass aus der Pressemitteilung heraus jedoch ersichtlich würde, welchen Anforderungen dieses Arbeitszeiterfassung genügen muss. Es bleibt abzuwarten, ob die noch zu veröffentlichen Entscheidungsgründe dazu konkretisierende Angaben enthalten werden.

Auch die CCOO-Entscheidung des EuGH vom 14.05.2009 enthält zwar keine konkreten Handlungsanweisungen, jedoch einige Kriterien, welche bereits jetzt als Aktionsmaßstab für Arbeitgeber herangezogen werden können. Danach muss das Arbeitszeiterfassungssystem

  • objektiv,
  • verlässlich und
  • zugänglich

sein sowie von

  • jedem Arbeitnehmer
  • die geleistete tägliche Arbeitszeit

erfassen.

Jeder Arbeitgeber ist daher gut beraten, zunächst schnellstmöglich für alle Arbeitnehmer ein Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen, welches diesen Anforderungen genügt. Dementsprechend ist zum aktuellen Zeitpunkt die Zulässigkeit der Vertrauensarbeitszeit höchst fraglich. Gleichzeitig sollten die Entscheidungsgründe des Bundesarbeitsgerichts und die sich darauf entwickelnde Rechtsprechung sehr gut im Auge behalten werden. Zudem ist zu erwarten, dass nunmehr auch die Gesetzgebung zeitnah aktiv werden dürfte. Die Zukunft wird zeigen, inwieweit darauf basierend ein gewisser Spielraum auf Arbeitgeberseite bleiben wird.

 

 

PS: Gerne dürfen wir an dieser Stelle anlässlich dieser überraschenden und folgenreichen Entscheidung auf das Kurz-Webinar „Arbeitszeit Aktuell – Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit“ unseres Partnerunternehmens Schreiner Praxis-Seminare hinweisen.

Dr. Bianca Maiworm ist als Rechtsanwältin am Attendorner Standort der Sozietät Dr. Schreiner + Partner tätig. Sie ist Fachanwältin für Arbeitsrecht.

Im Anschluss an ihr wirtschaftlich ausgerichtetes Jurastudium promovierte sie an der Universität Osnabrück. Zudem erwarb sie die Zusatzqualifikation des LL.M. im Wirtschaftsstrafrecht.

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